Berufslehre

«Ich will zeigen, dass man alles erreichen kann»

Leana Murpf ist 20 Jahre alt, absolviert eine kaufmännische Lehre im Schweizer Paraplegiker-Zentrum in Nottwil und ging durch ihre körperliche Beeinträchtigung einen nicht alltäglichen Bildungsweg. Im Porträt erzählt die zielstrebige Ruswilerin, wie sie ihre grossen Träume erreichen möchte.

Text: Luisa Böbner / Bilder: Sabrina Kohler
Erschienen im Zebi Magazin 2022, 29.10.2022

In der Eingangshalle des Schweizer Paraplegiker-Zentrums (SPZ) in Nottwil herrscht an einem schönen Sommertag Mitte August geschäftiges Treiben. Leana Murpf schreitet den Gang entlang und erklärt, dass die Lernenden einen Einführungstag haben und am Tag zuvor die Powerchair-Hockey-WM angefangen hat. Man merkt sofort: Es gefällt ihr hier, wo sie vor zwei Monaten ihre Lehre als Kauffrau EFZ gestartet hat. Zum Interview geht es hoch hinaus, auf eine Terrasse im dritten Stock. Im Gespräch mit Leana Murpf wird schnell klar, dass sie im Berufsleben Grösseres erreichen möchte. «Ich will den Leuten zeigen, dass auch Personen mit Handicap, die einen schwierigen Start ins Berufsleben hatten, es an die Spitze eines Konzerns schaffen können.» Die Ruswilerin ist zielorientiert und ehrgeizig, obwohl sie einen etwas anderen Bildungsweg als die meisten Gleichaltrigen gegangen ist.

Sonderschule als richtiger Weg

Aufgrund ihres Handicaps mit einer Fehlstellung der Füsse, einem künstlichen Darmausgang, einer Wachstumsstörung und diversen anderen Beeinträchtigungen besuchte sie zehn Jahre lang die Sonderschule der Stiftung Rodtegg in Luzern, eine Schule für Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung.

Rückblickend war das der richtige Weg, da sie sich damals in einem schlechteren medizinischen Zustand befand als heute: «Ich wäre in der Regelschule wohl schlichtweg durchgefallen», resümiert sie. Allerdings hat ihr die Sonderschulung den Start ins Berufsleben erschwert. Nach Abschluss der obligatorischen Schulzeit war sie schulisch nicht auf dem Level, das eine Berufslehre mit EFZ verlangt. Ihr fehlten Zeugnisse mit Schulnoten sowie anerkannte Stellwerkprüfungen.

Individuelle Förderung

Durch ihren IV-Berater gelangte sie an Parawork, eine Berufs- und Laufbahnberatung für Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung, die Leana Murpf ein elftes Schuljahr ermöglichte (siehe Box unten). Dort wurde der Fokus auf die schulische Einstufung, eine Abklärung des Berufsziels sowie eine anschliessende individuelle Förderung gelegt. Sie ging schnuppern, übte Vorstellungsgespräche und spielte Telefonate durch, die sie möglichst gut auf die Lehrstellenbewerbungen vorbereiten sollten. Ihr ursprüngliches Ziel, eine Lehre als Kauffrau EFZ, führte sie aber zunächst noch über die Ausbildung zur Büroassistentin EBA, die sie am SPZ in Nottwil absolvieren konnte.


«ICH WERDE HIER TROTZ MEINES LEHRLINGSSTATUS ALS VOLLE ARBEITSKRAFT GESEHEN UND GEHE DESHALB JEDEN MORGEN GERNE ZUR ARBEIT.»

Leana Murpf


Die Suche nach einem Ausbildungsplatz war nicht einfach und wurde durch die Corona-Krise und die wenigen freien Ausbildungsplätze erschwert. Leana ist froh, dass sie in Nottwil die Chance erhalten hat – so öffnete sich nämlich im Anschluss auch die Türe zu einer Lehre als Kauffrau EFZ. Leana Murpf fühlte sich im SPZ wohl und setzte den Fokus im Bewerbungsprozess deshalb voll und ganz auf ihren Lehrbetrieb: «Man wird hier wertgeschätzt, man ist Teil der Community – deshalb wollte ich meine Lehre gerne hier weiterführen.»

Das SPZ ist zudem einen Katzensprung von ihrem Wohnort Ruswil entfernt, wo sie mit ihren Eltern und den zwei Geschwistern zu Hause ist. Aber nicht nur der kurze Arbeitsweg ist für sie ein Vorteil. Aus der Sicht einer Lernenden habe man im SPZ in Nottwil immer eine professionelle Ansprechperson, werde individuell gefördert und profitiere auch von sozialen Leistungen wie etwa inkludierten Schulmaterialien, vom freien Zugang zum Fitnesscenter und zur Schwimmhalle oder vom privaten Seezugang.

Abwechslungsreiche Lehre

Im Kindesalter wollte die Ruswilerin zwar noch Köchin oder Polizistin werden, bedingt durch ihre Lebenslage änderte sich ihr Berufswunsch dann aber bald zur Kauffrau. Leana Murpf ist Realistin und «macht immer das Beste aus der Situation». Nun ist sie seit einigen Monaten Lernende Kauffrau EFZ. Im Halbjahrestakt wechselt sie die Abteilung, was ihr Einblick in sechs verschiedene Bereiche des kaufmännischen Berufs gibt. Sie kann sich damit ein Bild davon machen, welche der vielfältigen Arbeiten als kaufmännische Angestellte ihr in Zukunft Spass machen könnten. Begonnen hat ihre Reise bei der Orthotec, einer Tochtergesellschaft der Schweizer Paraplegiker-Stiftung, wo Leana Murpf in alltägliche Bestell- und Bewirtschaftungsprozesse für Kontinenz- und Alltagshilfen eingearbeitet wird. Weiter geht es bei der Sirmed, dem schweizerischen Institut für Rettungsmedizin, im Personalwesen, in den Finanzen und im Einkauf. Diese Abwechslung motiviert Leana Murpf ungemein: «Ich werde hier, trotz meines Lehrlingsstatus, als volle Arbeitskraft gesehen und gehe deshalb jeden Morgen gerne zur Arbeit.»

Grosse Träume

Aufgrund ihrer Lebensgeschichte bringt die 20-Jährige zudem grosses Verständnis für Kundinnen und Kunden mit, wenn diese mit physischen oder psychischen Herausforderungen kämpfen: «Obwohl die meisten hier mit Tetra- oder Paraplegie leben, sind mir die medizinischen Begriffe nicht fremd und ich kann so Verständnis und Mitgefühl in meine Arbeit einfliessen lassen.» Schubladisiert werde hier im beruflichen Umfeld sowieso nicht. Anders ist es im Privatleben – hier machte Leana Murpf auch schon Erfahrungen, dass sie nicht als vollwertige erwachsene Person angesprochen wurde, was wohl vor allem ihrer Grösse von 1,55 Metern geschuldet ist: «Ich bin 20 Jahre alt und trotzdem nehmen mich die Leute als 15-jährige Schülerin wahr. Das stresst mich sehr, aber ich habe gelernt, damit umzugehen.» In solchen Situationen vertrete sie dann ihre Person und ihren Standpunkt, damit die Leute sie respektieren: «Die Chefin der CSS Versicherung ist ja schliesslich auch nicht grösser als ich.» Selbstbewusst und humorvoll, so geht Leana Murpf mit ihren Lebensumständen um und setzt sich dabei hohe Ziele. Wenn sie ihre Lehre in drei Jahren abgeschlossen hat, möchte sie Sprachdiplome absolvieren, die Berufsmatura erlangen und dann im betriebswirtschaftlichen Bereich studieren, um so in der Zukunft eine Führungsposition in einer internationalen Firma zu belegen. So will sie der Gesellschaft zeigen, dass «man alles erreichen kann, wenn man es möchte».

Mein Weg

Lernende Kauffrau EFZ

Büroassistentin EBA

11. Schuljahr bei Parawork, Nottwil

Sonderschule Stiftung Rodtegg, Luzern


Parawork

Parawork ist eine Berufs- und Laufbahnberatung für Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung und unterstützt ihre Klientinnen und Klienten dabei, die berufliche (Wieder-)Eingliederung auf dem Arbeitsmarkt zu erreichen. Die Angebote reichen von Eingliederungsmassnahmen über Arbeitgeberinformationen bis hin zu Coaching zu bestimmten Berufen. Dabei sind die Massnahmen immer individuell angepasst und streben eine nachhaltige Lösung an.